Sexualität vergangener Jahrhunderte: Was früher im Bett angesagt war

Datum18.01.2024 07:00

Quellewww.spiegel.de

TLDRDer Historiker Franz X. Eder untersucht die Entwicklung der Sexualität über die Jahrhunderte und betont, dass sich intime Praktiken in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Veränderungen wandelten. Während biologische Aspekte konstant blieben, beeinflussten soziale und kulturelle Rahmenbedingungen das sexuelle Verhalten und die Normen stark. Eder skizziert, wie historische Kontexte wie die Aufklärung und die Industrialisierung die Wahrnehmung und Praktiken von Sexualität prägen, und stellt fest, dass fortschrittliche Verhütungsmethoden seit dem 19. Jahrhundert die Entkopplung von Sexualität und Fortpflanzung begünstigt haben.

InhaltSex war nicht immer so, wie wir ihn kennen, sagt der Historiker Franz X. Eder. Weil die Gesellschaft sich wandelte, veränderten sich auch intime Praktiken und Codes. SPIEGEL: Professor Eder, Sie erforschen die Geschichte der Sexualität. Hat sich über die Jahrtausende denn viel verändert – oder ist Sex nicht einfach immer Sex? Eder: Es kommt darauf an, was Sie unter Sexualität verstehen. Wenn Sie von Sexualität als biologischem Geschehen sprechen: Da scheint es tatsächlich im Laufe der Zeit keine sehr große Variationsbreite gegeben zu haben. Wenn Sie aber von Sexualität als Kulturform, vom Sozialen des Sexuellen sprechen, dann hat sich über die Jahrtausende viel verändert. Franz X. Eder, Jahrgang 1958, lehrt an der Universität Wien Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Geschichte der Sexualität. SPIEGEL: Ab wann hat man im deutschsprachigen Raum überhaupt von Sexualität gesprochen? Eder: Hier ist das Wort Sexualität um 1800 als Lehnwort aus dem Französischen aufgekommen. Es war ein Begriff, der zuerst in der Biologie verwendet wurde, man sprach von der Sexualität der Pflanzen. Erst im Zuge des 19. Jahrhunderts hat das Wort dann jene Ausprägung erhalten, die wir heute darunter verstehen. SPIEGEL: Und zuvor hatte man zumindest umgangssprachlich gar keinen Sex? Eder: Nein, davor sprach man von der Wollust, von der ehelichen Beiwohnung oder davon, sich fleischlich zu erkennen. In der Antike gab es Eros und Amor, das war noch ganz mit dem Göttlichen verknüpft. SPIEGEL: Woher wissen Sie das alles, was sind Ihre Quellen? Eder: Es kommt immer darauf an, was Sie als Quelle, als historisches Material, heranziehen. Schauen Sie sich zum Beispiel die Venus von Willendorf an, die hier in Wien im Naturhistorischen Museum gezeigt wird: Das ist eine 30.000 Jahre alte Fruchtbarkeitsdarstellung. Und Fruchtbarkeit hat natürlich mit Sexualität zu tun. Lust und Macht In den vergangenen Jahren sind die Diskussionen über Sexualität heftig und emotional geworden: Sexuelle Minderheiten fordern mehr Rechte, die #MeToo-Bewegung prangert sexualisierten Machtmissbrauch an, die Geschlechtergrenzen scheinen sich zu verschieben. Wie war das eigentlich früher? Diese Ausgabe schaut in die Betten vergangener Epochen und zeigt, wie Menschen seit der Antike über Lust und Moral debattierten – und was sie tatsächlich praktizierten. SPIEGEL: Das heißt, die Kulturgeschichte Europas, ist, soweit wir zurückblicken können, untrennbar mit Sexualität verknüpft? Eder: Absolut. Die antiken Fresken im Lupanar, dem Bordell von Pompeji, beispielsweise zeigen eine Vielfalt von Stellungen, die man heute vielleicht auf Youporn erwarten würde. Und in den Gerichtsakten der frühen Neuzeit  wird so ziemlich alles abgehandelt, was mit Sexualität in Zusammenhang steht: vorehelicher Sex, Ehebruch, Prostitution, Homosexualität. Man hört allerdings, wenn man sie liest, nicht direkt die Stimme derjenigen, die da verurteilt werden sollen. Es sind die Protokolle der Gerichtsschreiber. Sie dokumentieren Geständnisse, die womöglich unter peinlicher Befragung, also unter Folter, abgepresst wurden. SPIEGEL: Sind derartige Aussagen glaubwürdig? Eder: Das ist Material, bei dem man im Einzelfall extrem kritisch und vorsichtig sein muss, um das überhaupt interpretieren zu können. SPIEGEL: Autobiografische Texte wären weniger heikel. Existieren die aus dieser Zeit auch? Eder: Ja, zum Beispiel das berühmte Tagebuch des britischen Staatssekretärs Samuel Pepys. Der notierte im London des 17. Jahrhunderts eigentlich alles, was ihn sexuell erregt hat. Jede Masturbation wurde verzeichnet , er hatte einen speziellen Code dafür, mit eigens ausgedachten Symbolen. SPIEGEL: Samuel Pepy’ Tagebücher sind vielleicht auch deshalb bis heute eine hochinteressante Lektüre, weil sie zeigen, dass die Menschen des 17. Jahrhunderts gar nicht so weit entfernt waren von unserer Gegenwart, was das Begehren betrifft. Gab es im deutschsprachigen Raum eine Figur wie Pepys? Eder: Was die erotischen Schriften und auch die pornografische Literatur und Bildsprache angeht, hinkte der deutschsprachige Raum damals weit hinter England hinterher. Aber auch hinter Italien, Frankreich und den Niederlanden. Das lag auch an der wirtschaftlichen Entwicklung: Viele italienische Städte trieben schon seit der Renaissance international Handel, waren viel vernetzter als die eher agrarisch geprägten deutschsprachigen Landstriche. Und in England setzte die industrielle Revolution früher ein. Das alles hatte große Auswirkungen auf die Gesellschaft und damit auch auf die sexuelle Kultur. SPIEGEL: Heißt das, sexuelle Normen sind ein Ergebnis derartiger gesellschaftlicher Prozesse und werden gar nicht so sehr von Obrigkeiten vorgegeben? Eder: Das kommt auf die Epoche an. Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft  im 17., 18. Jahrhundert war für die Veränderungen der Sexualkultur zentral. Durch die Verwissenschaftlichung und die Liberalisierung der Gesetze in der Aufklärung wurde nun über Sexualität, Verhütung und Geschlechtskrankheiten in einer ganz neuen Weise diskutiert. Eine ähnliche Bedeutung hatte die Entwicklung der Arbeiterschaft als soziale Schicht im 19. Jahrhundert. In solchen neuen sozialen Kontexten eröffneten sich ganz andere Möglichkeiten. In ihnen konnte man spezifische Formen der Sexualität leben, die in der bäuerlichen Kultur unmöglich gewesen wären. Ein wesentlicher Faktor war sicher auch die Verstädterung. Die Anonymität der städtischen Kulturen führte dazu, dass sich im Sexuellen mehr tat. So hatten die Arbeiterinnen und Arbeiter häufiger vorehelichen Sex, denn im Fall einer Schwangerschaft konnte das Paar zusammenziehen und eine Familie gründen. Die dörfliche Enge und Tradition und die daraus resultierende Überwachung fielen dort weg. SPIEGEL: Was wissen wir über diese Überwachung? Ging sie vom Klerus aus, war von den damals herrschenden Normen der christlichen Religion geprägt? Eder: Im Mittelalter, ganz besonders im Frühmittelalter, gab es nur wenige Menschen, die schreiben konnten und uns schriftliche Quellen hinterlassen haben, über den praktischen Alltag wissen wir deshalb sehr wenig. In der theologischen Literatur sieht man einen großen Unterschied zwischen Klerikern, die sich als Gelehrte äußerten, und Kirchenleuten, die näher bei den Menschen waren, vielleicht sogar eine medizinische Ausbildung besaßen. Die einen verdammen den Sexualtrieb aufs Schärfste. Die anderen sehen den Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau als notwendig an, damit die Körper gesund bleiben – und damit der Mann nicht fremdgeht. SPIEGEL: Das Christentum war nicht generell sexualfeindlich? Eder: Das frühe Christentum übernahm sexualskeptische Positionen aus der griechischen Antike und baute diese aus. Es war ja zu Beginn eine Weltuntergangsreligion: Man erwartete, dass in den nächsten Jahren, spätestens im nächsten Jahrhundert, die Welt kollabieren würde. Deshalb zog man sich ein Stück weit aus der fleischlichen, diesseitigen Kultur zurück und orientierte sich mehr hin zur Spiritualität. Daraus erwuchs die Skepsis gegenüber dem Fleischlichen, gegenüber dem Sexuellen in der christlichen Kultur. SPIEGEL: Gab es in der Geschichte der europäischen Sexualität immer wieder solche Epochenwenden? Eder: Ja, wobei das fast nie klare Brüche waren, sondern ein Wandel, evolutionäre Veränderungen. Gegen Ende des Mittelalters, seit dem 15. Jahrhundert, gab es viel Kritik an der Moral der Kirchenleute und auch an der Moral in der städtischen Kultur, verstärkt noch einmal durch die Reformation. Dadurch veränderte sich im Bereich des Sexuallebens viel. Die Zeit ab etwa 1500 würde ich deshalb als eine neue sexualitätsgeschichtliche Epoche ansehen. SPIEGEL: Wodurch war die nun geprägt? Eder: Durch strenge Gesetze, staatliche Regulierung, Sozialdisziplinierung und Verfolgungen. Nicht nur in der reformatorisch-strengen Schweiz zum Beispiel wurden die Bordelle geschlossen. In den calvinistischen Niederlanden brannten Scheiterhaufen mit sogenannten Sodomiten, den Homosexuellen. SPIEGEL: Betraf das nur die protestantischen Landstriche? Eder: Nicht nur. Die katholische Gegenreformation hat einige dieser Maßnahmen übernommen. SPIEGEL: Was kam danach? Eder: Eine weitere Epoche war zweifelsohne die Aufklärung vom späten 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert. Die Trennung von kirchlicher Moral und säkularem Gesetz hat so etwas wie eine Liberalisierung bewirkt. Im deutschsprachigen Raum begann diese Liberalisierung mit der Übernahme des Code Napoléon im bayerischen Strafrecht von 1813. Darin kamen strafrechtliche Kategorien wie das, was wir heute Homosexualität nennen, gar nicht mehr vor. Abweichende Sexualität wurde nicht wie zuvor verfolgt. SPIEGEL: Hat man damals überhaupt von Homosexualität gesprochen? Und können wir mit solchen modernen Kategorien das Sexualverhalten früherer Epochen überhaupt fassen? Eder: Nein, wenn gleichgeschlechtliche Beziehungen in den Gerichtsakten auftauchen, ist von Sodomie die Rede. So etwas wie die homosexuelle Subkultur, einen schwulen Lebensentwurf hat es damals noch nicht gegeben. Das hat sich in der heutigen Ausprägung erst ab dem späten 19. Jahrhundert entwickelt. Und auch das Konzept von Homosexualität als sexuelle Identität, wie wir es heute verstehen, kannte man früher nicht. SPIEGEL: Was genau verstand man denn dann unter "Sodomie"? Eder: Das war sehr konkret an bestimmte Vergehen geknüpft und lässt sich aus den Gerichtsakten rekonstruieren. Da ging es zum Beispiel um Frauen, die in die Rolle von Männern geschlüpft sind. Und dann sagte die Frau unter Folter: "Ja ich habe einen Lederdildo verwendet , und ich habe mich dann auch so angezogen wie ein Mann." Oder es ging um zwei Männer, die gemeinsam masturbierten oder Analverkehr hatten. Generell wurden eher Männer bestraft, weil man sich meist gar nicht vorstellen konnte, dass Frauen miteinander Sex haben können. Unter Sex verstand man Penetration. Preisabfragezeitpunkt 21.11.2025 09.10 Uhr Keine Gewähr SPIEGEL: Die Gerichtsakten bilden aber ja nur einen Ausschnitt der Sexualgeschichte jener Zeit ab. Was weiß man über den anderen Teil? Eder: Das ist die große Problematik der Sexualitätsgeschichte: Über die ganz alltägliche Sexualität des Großteils der Menschen bis ins 18. Jahrhundert hinein wissen wir nur sehr wenig. 80 Prozent der Bevölkerung lebten damals auf dem Land und arbeiteten in der Landwirtschaft. Von deren Alltagsleben, von deren Träumen oder Verhalten im Ehebett oder hinterm Busch wissen wir kaum etwas. SPIEGEL: Es gibt ja das populäre Bild vom ausschweifenden Leben des Adels. Ist das ein Klischee, oder ist das dokumentiert? Eder: Das gab es wirklich, zumindest für einen Teil der adeligen Männer. In Einhards Biografie von Karl den Großen finden Sie zwei, drei Seiten nur darüber, welche Frauen er hatte und mit wem er welche Kinder gezeugt hat. Auch später hatten die allermeisten Adeligen Konkubinen, Hetären oder Mätressen . Aber was da konkret lief, darüber wissen wir sehr wenig: Adelige standen kaum vor Gericht, aus den Akten erfahren wir also nichts. SPIEGEL: Wenn wir über Gerichtsakten sprechen: Gibt es Belege, dass auf Seite derer, die Verhöre geführt oder gefoltert haben, auch sexuelle Lust mit im Spiel war? Eder: Das ist eine Mystifizierung, die durch die Pornografie des 16. bis 18. Jahrhunderts aufgekommen ist. Solche sexuellen Exzesse hat es in der Wirklichkeit kaum gegeben. SPIEGEL: Also sind es Fantasien? Eder: Ja. Die Hardcore-Pornografie die unter anderem vor der Französischen Revolution boomte, entwickelte sich aus einem politischen Impuls heraus: Sie war eine Form der Gesellschaftskritik. Deshalb waren ihre Protagonisten vor allem christliche Kleriker, oft Adelige, die Mädchen verführten und die ausbeuteten. Und alle möglichen Dinge mit Tieren, mit Dienern, Mägden und anderen adeligen Frauen praktizierten. Auspeitschen und Fesseln spielten dabei oft eine Rolle, Praktiken also, die eigentlich mit der Kasteiung im Christentum verbunden werden. SPIEGEL: Pornografie als Gesellschaftskritik – ist sie das auch heute noch? Eder: Nein, seit etwa den Sechzigerjahren folgt die Pornografie der kapitalistischen Logik. Es geht darum, Bedürfnisse zu erzeugen und immer breitere Schichten von Konsumentinnen und Konsumenten anzusprechen. Anfangs war die Frage noch: Hast du schon mal onaniert? Heute heißt es: Hast du schon mal Analverkehr ausprobiert? Hast du dich schon mal auspeitschen lassen? Versuch es doch mal! Es geht darum, Anreize zu schaffen. Die moderne Pornografie ist ein Bedürfnisanregungsmaschine. SPIEGEL: Lässt es sich denn historisch belegen, dass der Katalog an Varianten und Fantasien heute umfangreicher ist? Eder: Ja. Oralverkehr, Fellatio und Cunnilingus beispielsweise hat bei heterosexuellen Paaren sehr stark zugenommen. In früheren Jahrhunderten galt der Kontakt der Lippen und des Mundes mit den Genitalien als ekelhaft. Man dachte, dort würden Säfte ausgetauscht, die nicht zueinander gehören, und davon könne man krank werden. Dass solche Oralkontakte mittlerweile als Teil des normalen sexuellen Spektrums angesehen und auch praktiziert werden, ist eine Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte. SPIEGEL Gibt es so was wie Moden oder Trends in der Sexualität? Eder: Das Vorspiel ist dafür ein Beispiel. In Theodoor Hendrik van de Veldes viel gelesenem Sexualratgeber  "Die vollkommene Ehe" aus den Zwanzigerjahren ist das Vorspiel enorm wichtig. Der Mann und die Frau müssen sich küssen, streicheln, das Licht muss entsprechend sein, man braucht einen abgeschotteten Raum, riet er. Daraus entstand geradezu eine eigene Phase des Geschlechtsverkehrs. Seit den Sechzigerjahren galt dann der Imperativ des Stellungswechsels. Sex wirkte nun wie ein Fitnessprogramm. SPIEGEL: Sind das bloße Moden oder Ausdruck einer größeren gesellschaftlichen Veränderung? Eder: Das geht Hand in Hand. Aus der heutigen Sexualberatung gibt es immer wieder Berichte von jungen Frauen, die schildern, dass die jungen Männer gleich beim ersten Mal Analverkehr  mit ihnen haben wollen. Sie haben das so gesehen und glauben, das gehöre dazu. Praktiken, die einstmals als widernatürlich oder krankhaft galten, sind über die Pornografie im Mainstream angekommen und verändern die gesellschaftlichen Konventionen. Auf der anderen Seite gibt es im Kontrast dazu aber auch junge Leute, die sich bewusst gegen das Pornografische stellen. Sie sagen, wir wollen den Geschlechtsverkehr aufschieben, wir wollen das in Liebe gemeinsam erleben. SPIEGEL: Wann hat sich denn Sexualität zu einem Teil der persönlichen Identität entwickelt? Wissen wir etwas über vormoderne Lebensentwürfe, die sexuell codiert waren? Eder: Auch wenn man die Begriffe nicht benutzt hat und über Identität nicht in der Form nachdachte, wie wir das heute tun, gab es Praktiken, die wir heute in diesen Kontext einordnen würden. In den italienischen Renaissancestädten entwickelte sich etwa eine gleichgeschlechtliche Kultur von Männern, aus dem künstlerischen Bereich, Schriftsteller, auch Adelige. Sie zogen sich wie Frauen an und trafen sich in Kaffeehäusern, es wurden sogar Hochzeiten inszeniert. Das passte zur extravaganten Kultur dieser Städte und wurde zumindest eine Zeit lang auch nicht verfolgt. SPIEGEL: Nonbinäre Geschlechterbilder gibt es also schon lange? Eder: Jedenfalls immer wieder. Erst die naturwissenschaftliche Wende des 18. Jahrhunderts hat dazu geführt, dass man sich eindeutig auf die Biologie berufen hat. Nun wurden die Anatomie, die Physiologie und die Körperbilder von Frau und Mann festgeschrieben . Die Natur wurde zementiert. SPIEGEL Solch eine klare Trennung gab es im Mittelalter und der frühen Neuzeit nicht? Eder: Man sprach auch damals von zwei Geschlechtern. Aber die Vorstellung dessen, was ein Mann ist und was eine Frau, war wesentlich offener. Ebenso die Körperbilder. Es gab die Hermaphroditen, die Amazonen in der griechischen Antike und die Soldatinnen im Dreißigjährigen Krieg. SPIEGEL: Waren die Soldatinnen im Dreißigjährigen Krieg ein größeres Phänomen? Eder: Nein, das waren Einzelfälle. Auch Johanna von Orléans , die schon im 15. Jahrhundert für Frankreich gegen England in den Krieg zog, war ein solcher Einzelfall. SPIEGEL: Wie sehen Sie Johanna von Orléans? Eher als ein Mädchen, das eine Berufung hatte, oder tatsächlich als einen männlich codierten Typ, also womöglich trans? Eder: Sie können solche Begriffe nicht auf die Vergangenheit anwenden, man hatte damals keine Vorstellung davon, das wäre ahistorisch. Ich glaube, das Spezifische an unserer Vorstellung von Sex und Gender heute ist, dass man willentlich, durch bewusste Entscheidung auswählen kann, was man sein möchte. Preisabfragezeitpunkt 21.11.2025 09.10 Uhr Keine Gewähr SPIEGEL: In gesellschaftlichen Debatten ist Sexualität heute vor allem dann ein Reizthema, wenn es um derartige Fragen geht. Die Konflikte um Abtreibung und Verhütung hingegen, über die in der Nachkriegszeit erbittert gestritten wurde, haben deutlich nachgelassen. Ist Fortpflanzung kein gesellschaftliches Thema mehr? Eder: Fortpflanzung ist immer noch eine entscheidende soziale Schnittstelle: Es geht dabei um Familienstrukturen, Beziehungsformen, Herrschaft, Weitergabe von Besitz und Vermögen, soziale Stellung, Legitimation von Nachkommen. Der Zusammenhang zwischen Sexualität und Verwandtschaft war immer schon sehr eng, nicht nur im Adel, wo es um den Fortbestand von Dynastien ging, sondern auch im Bauernstand und Bürgertum. SPIEGEL: Aber zumindest in Mitteleuropa geht es doch nicht mehr darum, den Bestand der Familie durch Geburten aufrechtzuhalten? Heute entscheiden wir frei, ob Sexualität nur ein Akt des Vergnügens oder auch ein Zeugungsakt sein soll. Eder: Das ist eine wirklich wichtige Entwicklung. Wobei Sexualität, die nicht auf Fortpflanzung zielte, auch schon in früheren Jahrhunderten immer eine Rolle gespielt hat. Es gab voreheliche Sexualität, Sexualität außerhalb der Ehe, Prostitution und natürlich alle Formen von gleichgeschlechtlichem Verkehr. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen Kondome aus Latex auf. Nun konnten Paare erstmals bewusst und halbwegs sicher verhüten. In den Dreißigerjahren sanken die Preise: Ein Kondom kostete nun etwa so viel wie ein Kilogramm Brot – das war jetzt auch für breite Schichten finanzierbar. Seit 1960 die "Pille" in den USA zugelassenen wurde, konnten Frauen selbst entscheiden, ob sie verhüten oder nicht. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Sexualität vollends von der Fortpflanzung getrennt. Und mit der künstlichen Befruchtung ist Fortpflanzung heute möglich, ohne dass man dafür heterosexuellen Geschlechtsverkehr braucht. SPIEGEL: Erleben wir gerade den entscheidenden Moment, in dem sich die Sexualität als Kultur vollends von der Biologie löst? Eder: In der Rückschau löste sich schon über die vergangenen Jahrhunderte hinweg die Sexualität immer weiter von der Fortpflanzung. Was jetzt neu hinzukommt, ist, dass sich die Fortpflanzung von der Sexualität trennt. Wir werden sehen, wie sich das auf die sexuelle Kultur auswirkt.