Datum13.10.2025 12:54
Quellewww.spiegel.de
TLDRDer Artikel kritisiert die Praxis von Linken und Grünen, politische Differenzen als "Kulturkampf" zu labeln, wenn sie in die Defensive geraten. Autor Nikolaus Blome argumentiert, dass dies lächerlich und undemokratisch sei und dazu führe, dass wichtige Debatten vermieden werden. Er beleuchtet spezifische Themen wie die Benennung von Veggie-Produkten und das geplante EU-Verbrenner-Aus, die nicht tatsächlich Kulturkämpfe darstellen. Zudem thematisiert er den Mangel an grünem Selbstbewusstsein in der Debatte um gesellschaftliche Transformationen.
InhaltVeggie-Wurst oder Verbrenner-Aus: Überall, wo Linke und Grüne in die Defensive geraten, soll böser, böser "Kulturkampf" der Grund sein. Das nervt. Dieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde. Neulich habe ich ein leises, kluges Interview mit Nathanael Liminiski gelesen, der früher mal als erzkatholischer Rechtsausleger galt (wie ich fand, zu Unrecht) und heute Europaminister sowie Staatskanzleichef von Hendrik Wüst in NRW ist. "Als Partei der Mitte führen wir keine Kulturkämpfe", sagte Liminski der "Zeit" über seine CDU. "Wir müssen uns die Kraft der Differenzierung bewahren." Nikolaus Blome, Jahrgang 1963, war bis Oktober 2019 stellvertretender Chefredakteur und Politikchef der "Bild"-Zeitung. Von 2013 bis 2015 leitete er als Mitglied der Chefredaktion das SPIEGEL-Hauptstadtbüro, zuvor war er schon einmal stellvertretender "Bild"-Chefredakteur. Seit August 2020 leitet er das Politikressort bei RTL und n-tv. Dort macht er auch einen wöchentlichen Podcast zusammen mit Jakob Augstein . Im Januar 2025 erscheint sein neues Buch "Falsche Wahrheiten: 12 linke Glaubenssätze, die unser Land in die Irre führen". Schön gesprochen, keine Frage. In der Regel der Fälle sollten Konservative, die etwas auf sich halten, die Finger vom Kulturkampf lassen, das sehe ich auch so. Weil sich nämlich alsbald alle besudeln, kennen Kulturkämpfe keinen Stil, sondern auf Sicht nur Verlierer, das Land, um das gekämpft wird, unweigerlich inbegriffen. Allein: Mir scheint, Linke und Grüne machen sich diese vornehm rechte Zurückhaltung immer frecher zunutze. Sie wollen die "Kulturkampf-Zone" rhetorisch-definitorisch erweitern, damit sich anständige Konservative von möglichst vielen streitigen Themen fernhalten oder gar ihre eigenen Wahlerfolge links liegen lassen. Kurz gesagt, es nervt, was alles inzwischen böser, böser "rechter Kulturkampf" sein soll: erst die Begradigung einiger Gender-Leitlinien im behördlichen Sprachgebrauch. Vergangene Woche dann, dass eine Mehrheit im Europaparlament beschließt, eine "Veggie-Wurst" nicht länger "Wurst" nennen zu lassen. Beim Ringen um das strikte EU-"Verbrenner-Aus", in meinen Augen eher industrie- und klimapolitisch grundiert, verhält es sich ähnlich: Selbst so verständige Grüne wie Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann will politisch umrubeln und warnt vor "Kulturkampf". Himmel, wenn es echter Kulturkampf wäre, würden vegane Würste allesamt stumpf verboten, E-Autos mit prohibitiven Auflagen überzogen und jedwedes Klimaschutzprogramm gekillt (wie es die AfD will). Man fragt sich, wo möchten interessierte Kreise den Sperrvermerk "Kulturkampf" als Nächstes setzen? Das neue Bürgergeld ließe sich als "Kulturkampf" der Markt-Liberalen brandmarken, weil die Wiederaufnahme einer regulären Arbeit für Langzeitarbeitslose nicht länger nur eine Option, sondern eine Pflicht sein soll. Der Streit über die Erbschafts- und Vermögensteuer könnte zum "Krieg den Palästen" erhöht werden, weil man Milliardäre abschaffen will. In Wahrheit jedoch gilt das Wort Barack Obamas: "Wahlen haben Konsequenzen." Diese in Bausch und Bogen als "Kulturkampf" zu diffamieren, ist lächerlich und undemokratisch: Da möchte die unterlegene Mannschaft den Platz für unbespielbar erklären, damit die Tore des Gegners nicht zählen und sie das Match nicht verliert. So haben wir nicht gewettet. Preisabfragezeitpunkt 14.10.2025 16.20 Uhr Keine Gewähr Linke und Grüne haben die letzten Wahlen verloren, auch die Europawahl 2024. Das hat nun Konsequenzen: Aus dem "green deal" der Mehrheit der 2019er-Wahl wird in der EU gerade ein korrigierter, wiewohl weiter auf Klimaneutralität 2050 verpflichteter "industrial deal". Und, nebenbei, entzieht eine parlamentarische Mehrheit der "Veggie-Wurst" das Recht, sich als das zu bezeichnen, was sie nicht ist und nicht sein will: eine "Wurst" im jahrhundertelang tradierten Sinn des Wortes – mit Fleisch als zentralem Merkmal wie bei Steak oder Schnitzel auch. Dieses Fleisch mag man essen oder es bleiben lassen. Die Deutschen etwa konsumieren immer weniger davon. Von rechts der Mitte betrachtet, bedeutet das indes noch lange nicht, dass die alten Begriffe darum frei zu kapern wären. Plötzlich mahnen vermeintlich vernünftige Gruppen links der Mitte, die sich jahrelang selbst an kleinen oder Kleingruppenproblemen stolz abgearbeitet haben: "Wir haben doch viel größere Probleme!" Ja, natürlich, haben wir. Aber nur weil größere Probleme existieren, ist es ja nicht verboten, die kleineren mal anzupacken. Vielleicht geht es der Mehrheit der Europaabgeordneten auch darum, den Wählern mit dieser Nebensache zu signalisieren: Wir haben verstanden. War zuletzt ein bisschen viel gesellschaftliche Veränderung, vielleicht auch ein bisschen schnell. "Verwechslungsgefahr" als offizielle Begründung für die Gesetzgebung halte ich hingegen für weit hergeholt, derart unaufmerksam ist wohl kaum jemand regelmäßig. Trotzdem führt das Wort zum Kern der Dinge: Der Mangel an grünem Selbstbewusstsein überrascht mich am meisten in der Debatte. Da sind große Milieus von einem (fleischlosen) Lebensstil zutiefst überzeugt, von Nachhaltigkeit, Wirtschaftlichkeit und globaler Moral, fair enough. Dennoch sehen sie ihn von jeder kleinen Widrigkeit in den Grundfesten erschüttert oder gar tödlich bedroht. Man will weg vom Fleisch und hat erheblichen Erfolg. Aber man nennt das Produkt bei einem Namen, der jeden genau daran denken lässt: an Fleisch. Bei "Milch" wurden die Fragen übrigens längst schon geklärt: Was nicht aus dem Euter eines lebenden Tieres kommt, ist keine Milch, bestimmte die EU 2013, und der EuGH bestätigte 2017. So einfach. Hafermilch heißt auf der Tüte darum halt Haferdrink, und als ein Schlaumeier sie "Hafer-Milck" nennen wollten, machte ein Gericht kurzen Prozess. Und ja, es ist durchaus möglich, dass die Welt nicht untergehen würde, wenn es weiter auch "Veggie-Wurst" hieße. Aber viel sicherer ist, geradezu garantiert, dass die Welt nicht untergehen wird, wenn Wurst nicht mehr "Veggie" heißen kann, wetten?