SPIEGEL-Jahresrückblick: Wenn die Freiberuflichkeit zum Fiasko wird

Datum31.12.2025 16:16

Quellewww.spiegel.de

TLDRDer Jahresrückblick des SPIEGEL beleuchtet die wachsenden Risiken der Scheinselbstständigkeit für Freiberufler und Unternehmen. Aufgrund strengerer Kriterien und Urteile des Bundessozialgerichts sind Auftraggeber zunehmend gefährdet, hohe Sozialversicherungsnachzahlungen zu verlangen. Dies betrifft viele Branchen und kann zu Existenzängsten führen. Um rechtliche Unsicherheiten zu vermeiden, sollten Unternehmen und Auftragnehmer proaktive Maßnahmen wie Statusprüfungen und die Nutzung eigener Arbeitsmittel ergreifen. Rechtsberatung wird empfohlen, um Auftragsverhältnisse abzusichern.

InhaltHonorarkräfte rechtssicher zu beschäftigen, ist nahezu unmöglich geworden. Unternehmen und Auftragnehmer riskieren ihre Existenz. In persönlichen Jahresrückblicken berichten SPIEGEL-Redakteurinnen und -Redakteure, welche Texte sie 2025 besonders beschäftigt haben. Scheinselbstständigkeit entsteht, wenn Personen formal als Selbstständige auftreten, faktisch jedoch abhängig beschäftigt sind. Das hat gravierende Folgen: Die Auftraggeber müssen Sozialversicherungsbeiträge nachzahlen – für das laufende Jahr und bis zu vier Jahre, wird ihnen Vorsatz nachgewiesen, für 30 Jahre  . Betroffene Unternehmen sehen sich so mit plötzlichen Forderungen in Höhe von Zehntausenden bis zu mehreren Hunderttausend Euro konfrontiert. Betroffen sind nahezu alle Branchen, in denen flexible Beschäftigungsverhältnisse und projektbezogene Zusammenarbeit auf selbstständiger Basis, also gegen Rechnungstellung, üblich sind. Beispiele sind Ingenieure, Buchhalter, Touristenführer, IT-Dienstleister, aber auch Trainer in Fitness- oder Yogastudios. Selbstständige Auftragnehmer, die in den Betriebsablauf des Auftraggebers eingegliedert sind, unterliegen einem hohen Risiko, als scheinselbstständig eingestuft zu werden. Teilweise kann allein der Leistungsnachweis  einer Architektin oder eines IT-Spezialisten für ein einzelnes Unternehmen dafür maßgebliches Indiz sein, wie Entscheidungen von Sozialgerichten nahelegen. Die Krux liegt in der Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit der Bewertung des Sozialversicherungsstatus durch die Rentenversicherung. Was bei einer Prüfung der Deutschen Rentenversicherung früher als korrekt galt, kann Jahre später als Verstoß eingestuft werden. Die finanziellen Folgen sind für die betroffenen Auftraggeberunternehmen verheerend. Die Nachzahlungen erfolgen für mehrere Jahre rückwirkend und können existenzbedrohende Höhen erreichen. Dies führt nicht selten dazu, dass ehemals Selbstständige in eine Festanstellung wechseln oder Unternehmen die mit ihnen bestehenden Auftragsverhältnisse auflösen. Denkbar, wenngleich eher selten, sind auch strafrechtliche Konsequenzen: Für den scheinselbstständig Tätigen werden durch den Auftraggeber keine Sozialabgaben abgeführt, was bei entsprechendem Vorsatz als "Vorenthalten von Arbeitsentgelt" strafbar sein kann. Die grundlegenden Kriterien zur Feststellung der Scheinselbstständigkeit im Sinne einer abhängigen Beschäftigung sind in Paragraph 7 Abs. 1, Sozialgesetzbuch IV  definiert. Die sich daraus ergebenden zentralen Fragen sind: Das Bundessozialgericht (BSG) hat diese Kriterien in verschiedenen Urteilen konkretisiert. Zentrale Urteile des Bundessozialgerichts: Urteil vom 28. Juni 2022 (Aktenzeichen: B 12 R 3/20 R ) Kernpunkt: In diesem Fall wurde eine Lehrerin an einer Musikschule als abhängig beschäftigt eingestuft, obwohl sie zuvor als selbstständig galt. Das Gericht schärfte die Kriterien für die Beurteilung der Selbstständigkeit und betonte die Bedeutung der betrieblichen Eingliederung. Bedeutung: Das Urteil zeigt eine Konkretisierung der Kriterien zur Statusbewertung von Lehrkräften und Dozenten, was zu einer verstärkten Prüfung von Selbstständigen in diesen Bereichen führen könnte. Urteil vom 20. Juli 2023 (Aktenzeichen: unter anderem B 12 R 15/21 R  und B 12 BA 4/22 R ) Kernpunkt: Das BSG entschied, dass die Gründung einer Ein-Personen-Gesellschaft (etwa als GmbH oder UG) durch den Subunternehmer nicht automatisch vor der Sozialversicherungspflicht schützt. So kann die Tätigkeit des Gesellschafter-Geschäftsführers als abhängige Beschäftigung beim Auftraggeber eingestuft werden, wenn er in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers integriert ist und dessen Weisungen unterliegt. Das heißt etwa: Auch ein Architekt mit einer Ein-Personen-UG unterliegt dem Risiko der Scheinselbstständigkeit, wenn er für ein einzelnes Büro arbeitet und dessen Räumlichkeiten, Software und Kommunikationsmittel nutzt. Das ist insbesondere dann so, wenn ihm seine Arbeitszeiten und Projekte dezidiert vom Büro vorgegeben werden. Bedeutung: Dieses Urteil stellt klar, dass die formale Vertragsgestaltung nicht ausreicht, um eine Scheinselbstständigkeit zu vermeiden. Die tatsächlichen Arbeitsbedingungen sind entscheidend. Urteil vom 23. April 2024 (Aktenzeichen: B 12 BA 9/22 R ) Kernpunkt: Das BSG stellte fest, dass ein Pilot, der für einen Auftraggeber tätig war und kein eigenes Flugzeug besaß, als scheinselbstständig galt. Die Eingliederung in die Betriebsabläufe des Unternehmens war entscheidend für die Einstufung. Bedeutung: Dieses Urteil macht deutlich, dass das Fehlen eines eigenen Betriebsmittels (hier eines Flugzeugs) ein Indiz für Scheinselbstständigkeit sein kann, insbesondere wenn der Selbstständige organisatorisch in das Unternehmen integriert ist. Entsprechendes gilt beispielsweise auch für Frachtführer, Bus- und Kurierfahrer. 1. Unternehmen oder Auftragnehmer können im Rahmen eines "Clearingverfahrens" der Deutschen Rentenversicherung  nach Paragraph 7a SGB IV  den Status von Auftragnehmern prüfen lassen. Damit lässt sich frühzeitig Klarheit über den Sozialversicherungsstatus schaffen. Auch ein präventives Statusfeststellungsverfahren ist möglich. 2. Auftragnehmer sollten eigene Arbeitsmittel nutzen, eigenständig abrechnen, ihre Leistungen am Markt bewerben, über eigene Betriebsmittel in nicht unbeträchtlichem Umfang verfügen und, auch – wenn dies rechtlich nicht ausschlaggebend ist, weil jedes Auftragsverhältnis sozialversicherungsrechtlich gesondert beurteilt wird – mehrere Auftraggeber haben. 3. Selbstständige sollten darauf achten, nicht in den Betriebsablauf ihrer Auftraggeber eingegliedert zu sein. Dazu gehört etwa, dass feste Arbeitszeiten, eine Telefondurchwahl oder eine Unternehmensmailadresse des Auftraggebers vermieden werden sollten. Keinesfalls sollte auch ein arbeitsteiliges Zusammenwirken mit eigenen Mitarbeitern des Auftraggebers erfolgen. 4. Unternehmen, die mit Selbstständigen arbeiten, sollten Rücklagen für potenzielle Nachforderungen bilden, um im Ernstfall liquide zu bleiben. 5. Rechtsberatung in Anspruch nehmen. Eine rechtliche Beratung durch spezialisierte Anwälte kann helfen, Risiken zu erkennen und das Auftragsverhältnis sicherer zu gestalten.