Entführung in Nigeria: "Wir wollen uns von Extremisten nicht entzweien lassen"

Datum30.12.2025 09:30

Quellewww.zeit.de

TLDRIn Nigeria wurden 303 Schülerinnen und Lehrerinnen in einer katholischen Schule entführt, was eine massiven Welle der Besorgnis auslöste. Ordensfrau Agatha Chikelue kritisiert die Regierung, die weder Christen noch Muslime schützt, und fordert Transparenz über die Grundstücke der Täter. Ihre Zusammenarbeit mit Muslimen zeigt den interreligiösen Zusammenhalt im Kampf gegen Extremismus. Die Freilassung der Entführten, ein Wunder kurz vor Weihnachten, verdeutlicht die dringende Notwendigkeit, Kinder und Gemeinden zu schützen, während der Terror in Nigeria weiterhin zunimmt.

InhaltNigerias Regierung schütze weder Christen noch Muslime, sagt Ordensfrau Agatha Chikelue. Hier erzählt sie, was aus der Gewalt folgt und wie die Religionen zusammenhalten. Die ersten Nachrichten über die Entführung der Kinder kamen von den Entführten selbst. Dazu muss man wissen, dass die katholische Schule St. Mary in Papiri, an der das Drama sich ereignete, von Nonnen geführt wird. Auf sie hatten es die Entführer ursprünglich abgesehen. Und sie waren es auch, die in der Nacht des 21. November Alarm schlugen. Ich bekam die Hiobsbotschaft per WhatsApp, denn in einer Gruppe, zu der ich gehöre, sind neben vielen Ordensleuten und Bischöfen auch Schwestern der betroffenen Kongregation. Anfangs schrieben sie, dass fünfzig Schüler gekidnappt wurden, erst später überblickte der Orden das Ausmaß der Katastrophe: 303 Kinder und 15 Lehrerinnen fehlten. Nigerias Hauptstadt Abuja, wo ich lebe, liegt mehrere Autostunden entfernt vom ländlichen Tatort im Norden des Landes, im Bistum Kontagora. Als wir church leaders begriffen, dass es eine Massenentführung war, flehten wir die Regierung an, etwas zu unternehmen. Doch tagelang geschah gar nichts. Etwa fünfzig Kinder hatten es allerdings geschafft, zu fliehen: Sie waren von den Motorrädern der Terroristen gesprungen oder hinten runtergefallen. Es dauerte fast zwei Wochen bis zur Freilassung der ersten großen Gruppe von mehr als hundert Entführten. Wie das gelang, darüber ließ unsere Regierung die christliche Gemeinschaft jedoch völlig im Unklaren, selbst Ordensobere und Bischöfe erfuhren nichts. Erleichtert waren wir, als Präsident Trump sich sofort, noch im November, an die Entführer gewandt hatte, die USA würden militärisch einschreiten, wenn die Kinder nicht umgehend freikämen. Ich bin sicher, dass unsere Politiker sich nur deshalb so rasch um die Befreiung kümmerten, weil die amerikanische Regierung ihnen im Nacken saß. Wie die Familien der Gekidnappten fürchtete auch ich, dass es ihnen ergehen könnte wie den Mädchen von Chibok: Im April 2014 hatte Boko Haram 276 Teenager aus einer staatlichen Schule im Norden entführt, die ursprünglich von Protestanten gegründet worden war. Viele Opfer waren evangelisch, sehr viele aber auch muslimisch. Es traf sie alle gleichermaßen, weil den Dschihadisten die Bildung für Mädchen ein Dorn im Auge war. Sie wollten Angst verbreiten, und zugleich ging es um Geld. Damals gelang nur ganz wenigen Verschleppten die Flucht, und es dauerte drei Jahre, bis 82 durch einen Deal freikamen. Die meisten sind bis heute verschollen. Sie wurden vergewaltigt und zwangskonvertiert, verkauft und versklavt. Deshalb bangten wir den Dezember über schrecklich um die weiterhin Verschwundenen. In Papiri lernten vor allem Mädchen, aber auch Jungen im Alter von fünf bis sechzehn Jahren. Dass kurz vor Weihnachten alle restlichen Entführten freikamen, nicht nur die Kinder, auch die Lehrerinnen, war ein Wunder. Ich selber war vorher noch bei einem Gipfeltreffen der abrahamitischen Religionsführer, organisiert vom saudischen König. Juden, Muslime und Christen berieten in Lissabon darüber, wie wir aktuelle Konflikte entschärfen und Frieden erwirken können. Ich weiß, dass viele uns deshalb für naiv halten, für Idioten – und tatsächlich besitzen wir keine Waffen, können also auch niemanden entwaffnen. Aber wir glauben: Miteinander zu reden, ist der einzige Weg nach vorn. In meiner Heimat Nigeria sieht man ja, was passiert, wenn der Dialog scheitert – dann sprechen die Waffen. Wenn mich jemand ins Gesicht schlägt und ich schlage nicht gleich zurück, sondern stelle ihn zur Rede, hält er vielleicht inne. Natürlich braucht es gegen Kriegstreiber und Terroristen auch Druck. Nach der Freilassung der ersten Kinder von Papiri beknieten wir die Regierung: Wer sind die Täter? Kommen sie vor Gericht? Können sie bei nächster Gelegenheit wieder Unschuldige entführen? Wir Nigerianer wissen, wie gefährlich es ist, den Terror wachsen zu lassen. Seit fünfzehn Jahren erleben wir immer mehr Anschläge auf Kirchen, Moscheen, Schulen. In den vergangenen fünf Jahren sind die Kidnapper besonders dreist geworden. Der Terror ist ein Geschäft – nicht nur für Dschihadisten, sondern für kriminelle Banden aller Art, oft sind Politiker und Sicherheitskräfte involviert. Die Regierung jedenfalls hat nichts unternommen, um unsere Kinder und Gemeinden zu schützen – weder Christen noch Muslime. Ich habe mich deshalb schon vor langer Zeit mit muslimischen Frauen und Männern verbündet, die in unserem Land eine wichtige Rolle spielen. Wir wollen uns von Extremisten nicht entzweien lassen. Heute bin ich Co-Vorsitzende von Religions for Peace Africa und des Nigeria Women of Faith Network, außerdem Executive Director der Cardinal-Onaiyekan-Friedensstiftung.