Datum26.12.2025 16:35
Quellewww.zeit.de
TLDRDer Artikel reflektiert die persönlichen Erlebnisse der Autorin mit der Serie "Stranger Things", die sie seit ihrer Premiere 2016 begleitet. Sie beschreibt, wie die Serie nostalgische Erinnerungen an ihre Jugend weckt und parallelen zur eigenen Lebensentwicklung aufzeigt. Mit jeder Staffel erlebt sie Veränderungen im Charakter und in ihrem eigenen Leben, während die Themen reifer werden. Der bevorstehende Abschluss der Serie am Silvester führt zu Nachdenken über den eigenen Erwachsenwerdungsprozess und die damit verbundenen Freundschaften. "Stranger Things" wird als Zeitkapsel ihrer Jugend betrachtet.
InhaltAls Stranger Things begann, hing im Kinderzimmer unserer Autorin noch das Abiballkleid. An Silvester endet die letzte Staffel und sie fragt sich: Bin ich jetzt erwachsen? Am 17. Juli 2016 fühle ich mich, als wäre ich der freiste Mensch überhaupt. Durch das offene Fenster weht eine warme Brise in mein Kinderzimmer. Ich sitze auf meinem Bett in einem Reihenhaus am Rand von Kiel, vor meinem Fernseher am Fußende stapeln sich DVDs, Gossip Girl und Vampire Diaries. An der Tür meines Schranks hängt das rosa glitzernde Abiballkleid, das ich zwei Tage zuvor getragen habe. Seit Andreas Bourani mich mit Ein Hoch auf uns aus der Schulzeit verabschiedet hat, fühle ich mich, als könnte ich endlich tun und lassen, was ich will. Heute will ich eine neue Serie aus den USA anfangen, die mir meine Freundin Kathi empfohlen hat. Ich ahne zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ich neun Jahre später die finalen Folgen der letzten Staffel sehnlicher erwarte als meine Weihnachtsgeschenke. Es geht um ein paar Kinder aus der fiktiven Stadt Hawkins, Indiana, die durch ein Portal in einer Parallelwelt landen. Ich bin skeptisch: Netflix ordnet die Serie dem Genre "Horror" zu, und ich würde niemals freiwillig einen Horrorfilm schauen. Aber Kathi hat gesagt, so gruselig sei das gar nicht. Also stecke ich meinen Fire-TV-Stick in den Fernseher und The Vanishing of Will Byers beginnt. So heißt die erste Folge von Stranger Things. Obwohl ich Ende der Neunziger geboren bin, zieht mich die Ästhetik der Serie, deren Handlung im Jahr 1983 einsetzt, sofort an: selbstgemachte Mixtapes auf Kassetten, holzvertäfelte Wohnzimmer, das Kabel-Telefon, mit dem die beste Freundin angerufen wird. Ich gucke die erste Folge. Meine Mutter ruft zum Abendessen. Ich gucke die zweite Folge. Ich gehe Zähne putzen. Ich gucke die dritte Folge. Ich bin hooked. Ich kann kaum erwarten zu erfahren, wohin Will verschwunden ist. Ob Hopper Joyce endlich glaubt, dass hier etwas nicht stimmt. Und ob Nancy den nervigen Steve Harrington abschießt und sich Hals über Kopf in Jonathan verliebt. Das Nostalgische in Stranger Things erwischt mich komplett in dieser Lebensphase: Während ich überlege, was ich mit meinem Abi anfangen will, erinnern mich die Figuren an meine Kindheit und die frisch vergangene Schulzeit. Wir mussten in der Schule zwar keine Monster bekämpfen wie die Kids in Hawkins, aber auch wir haben in der Mittelstufe eine Bande gegründet und sind wie Mike, Lucas und Dustin auf Fahrrädern durch unsere Kieler Nachbarschaft gekurvt. Unsere Welt bestand auch aus kleinen Mutproben und unter den Tischen weitergereichten Zetteln, auf denen heimliche Crushes und mögliche Bandenaktivitäten diskutiert wurden. Keine Serie, kein Buch, kein Song hat dieses krasse Gefühl von Jugend jemals so auf den Punkt gebracht: Du merkst, dass die Welt größer ist, als du begreifen kannst, und das nächste Abenteuer lauert schon. Auch wenn das eigentlich Spannende in unserm Leben nur war, ob man mit Muttizettel auch wirklich in den Club reinkommt. Als die Staffel endet, versuche ich direkt herauszufinden, ob eine weitere geplant ist. Und ich schreibe Kathi auf Facebook: "DANKE für diese tolle Empfehlung. Hdgggdl." Als am 27. Oktober 2017 die zweite Staffel erscheint, habe ich schon ein fürchterlich langweiliges Englisch-Studium an der Uni Kiel abgebrochen und einen neuen Bachelor angefangen. Ich habe außerdem mein Kinderzimmer gegen mein erstes WG-Zimmer im Dachgeschoss über einer Schnellstraße getauscht. Und ich habe Kathi schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Sie ist zwar auch in Kiel geblieben, studiert aber an einer anderen Hochschule und irgendwie hat sich niemand mehr als Erstes bei der anderen gemeldet. Auch in Stranger Things verlaufen die Freundschaften nicht gradlinig. Neue Leute wie Max kommen dazu, während man andere, wie Eleven, aus den Augen verliert. Und vielleicht ist das okay so. Wir entwickeln uns in diesen Jahren alle so schnell, und manchmal eben in völlig unterschiedliche Richtungen. Mit Anfang 20 leide ich noch daran, wenn Leute aus meinem Leben verschwinden. Heute komme ich besser damit klar. Ich habe gelernt: Mir reicht ein kleiner, enger Freundeskreis. Spätestens nach der achten Folge dieser Staffel, The Mind Flayer, bereue ich aber, mir keine Gesellschaft zum Schauen organisiert zu haben. Es werden nicht nur alle Charaktere älter, das Grusel-Level steigt auch. Aber immerhin geht alles halbwegs gut aus. Eleven schließt das Gate, aus dem die Monster aus einer düsteren Parallelwelt nach Hawkins kommen. Und dann heißt es wieder: warten. Im Sommer 2019 bin ich 22 und habe das vierte Semester meines Bachelors in Öffentlichkeitsarbeit abgeschlossen. Ich weiß, dass ich mir für meine Zukunft wirklich "irgendwas mit Medien" vorstellen kann und bin endlich umgezogen. In die erste WG, in der ich mich wirklich zu Hause fühle, weil ich eine tolle Mitbewohnerin und eine ganz gemütliche Wohnung gefunden habe. Als ich im Frühling die Ankündigung für die Veröffentlichung von Staffel drei sehe, denke ich nur: Fuck, da bin ich im Urlaub. Drei Wochen lang mit einem Kombi auf den Straßen in Kalifornien, Nevada, Arizona und Utah, mit Zelt im Gepäck, ohne Internet. Und dann direkt Kofferpacken, weil ich mein fünftes Semester in Den Haag verbringe. Es ist das erste Mal, dass ich Kiel verlasse. Ich bin aufgeregt, im Erasmus Leute aus der ganzen Welt kennenzulernen. Und dann endlich die dritte Staffel zu sehen. Ich habe in den USA eigentlich penibel drauf geachtet, nicht gespoilert zu werden: Wenn ich mal WLAN hatte, habe ich nur meiner Mama schnell Bescheid gesagt, dass ich noch am Leben bin. Als ich mich einmal nicht mehr beherrschen kann und einen Blick auf Instagram werfe, lese ich doch: Diese Staffel wird eklig. Zum Glück finde ich in Holland die perfekte Mitbewohnerin, um das nicht allein durchzustehen. In meinem gemütlichen WG-Dachgeschosszimmer in einem schmalen Grachtenhaus schaue ich die neue Staffel mit Seolhwa. Sie kommt aus Südkorea, wo Stranger Things genauso gehypt wird. Es ist verrückt, wie man beim Quatschen über ausgedachte Charaktere bonden kann. Zum Beispiel über die Frage, ob Billy Hargrove missverstanden hat oder ob er einfach gemein ist. Die Serienabende mit den vertrauten Figuren geben uns Halt in einer Umgebung, in der sonst alles neu ist. Es tröstet mich zu sehen, wie Steve mit dem Erwachsenwerden struggelt und damit, sein Schul-Ich nach dem Abschluss loszulassen. Oder wie Eleven lernt: Mike muss nicht ihr ganzer Lebensinhalt sein, man braucht auch Freundinnen wie Max. Vielleicht ist Staffel drei auch deswegen meine Lieblingsstaffel, weil ich sie mit so vielen Erinnerungen aus meinem Auslandssemester verbinde. 2022 verbringe ich meinen ersten Sommer in Hamburg. Ich habe gerade meine Bachelorarbeit über die Darstellung der Menstruation in den Medien verteidigt und arbeite seit ein paar Monaten als Volontärin bei Mit Vergnügen Hamburg, einem Stadtmagazin mit Food- & Eventtipps. Ein fantastischer Schritt in den ersten Job, aber die Umstellung überfordert mich auch manchmal. Obwohl ich schon 25 bin, bekomme ich in der neuen Staffel Alpträume von Vecna, gespielt von Jamie Campbell Bower. Das Kostüm und die Art, wie er seine Stimme verstellt, sind grandios, aber unheimlich. Ich merke auch, wie sich die Probleme der Charaktere verändern: Statt Freund:innen darauf aufmerksam zu machen, dass man sich gegenseitig nicht belügt, geht es nun um Herzschmerz, Depressionen und Identitätsfindung. Eleven kämpft nicht mehr nur mit Monstern, sondern mit normalen Teenie-Problemen. Das Leben kann einfach überfordernd sein. Dieses Gefühl kenne ich. Hamburg stresst mich. Vor allem das Gefühl, alle wären cooler als ich und hätten konstant eine großartigere Zeit. Besonders im Sommer. In jeder Instagram-Story ist ein spektakulärer Sonnenuntergang zu sehen oder eine Person, die sektschlürfend über die Alster paddelt. Mir fehlt meine Freundesgruppe aus Kiel, die sich nach Wien, Berlin und Bremen zersplittert hat. Die Menschen, mit denen ich am liebsten Beachvolleyball spiele oder Aperol trinke. Auch in Stranger Things wohnen nicht mehr alle in Hawkins. Manche ziehen nach Kalifornien, viele distanzieren sich voneinander. Ist das normal, wenn man erwachsen wird? Der unaufhaltsame Lauf der Dinge? Die Fragen berühren mich, aber auch die Antwort darauf: Nein! Auch die Figuren merken im Laufe der Staffel, wie sehr sie sich brauchen und vermissen. Man muss nur mehr Zeit und Mühe in Freundschaften investieren als früher und regelmäßig telefonieren. Oder, mein großer Tipp, Postkarten schreiben. In dieser Staffel habe ich zum ersten Mal noch ein anderes Problem: Spoiler auf TikTok. Nachdem die ersten sieben Folgen veröffentlicht sind, bleibt mir nur ein Zeitfenster von wenigen Stunden, bis die ersten Fan-Edits auf meine For-you-Page gespült werden. Unfassbar nervig. Doch gleichzeitig ist es schön zu spüren, wie viele Gedanken sich auch Menschen in Sydney oder Santiago über die Serie machen. Wir sind eine weltweite Gemeinschaft, die gebannt nach Hawkins schaut. Am Ende der Staffel sitze ich mit nass geschwitzten Händen und zittrigem Atem auf dem Bett in meinem 10-Quadratmeter-Zimmer in Hamburg-St. Georg. So ein offenes Ende gab es noch nie. Ich kann kaum erwarten, die finale Staffel zu sehen. Wie lange dauert das noch? Das Jahr 2025 endet und mit ihm neun Jahre Stranger Things. Was in meinem Kieler Kinderzimmer begonnen hat, endet in meiner ersten richtigen Wohnung, mit meinem Freund und meinem Kater Steven. Gerade habe ich die Einladung für unser 10-jähriges Abitreffen im nächsten Sommer bekommen. Das ist crazy. Ich bin gespannt, was aus allen geworden ist, denn jenseits von ein paar Instagram-Storys habe ich keinen Kontakt mehr zu Kathi oder anderen Leuten aus der Schule. Ob Kathi sich gerade auch auf die letzten Folgen freut? Ein Jahrzehnt ist vergangen, auch im Leben der Schauspieler:innen der Serie. Millie Bobby Brown zum Beispiel ist inzwischen verheiratet, sie hat eine Tochter und lebt auf einer Farm in Georgia. Sadie Sink ist bald in Spider Man zu sehen und Finn Wolfhard geht mit seiner Indie-Musik auf Tour. Ich bin mit der Serie und ihren Charakteren erwachsen geworden. Der Gedanke, dass an Silvester alles für immer vorbei sein wird, fühlt sich so merkwürdig an, weil ich mich ihnen nah fühle. Bisher wusste ich immer: Das geht schon irgendwie weiter. Das Ende der Staffeln war nur hart, weil ich so unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht. Jetzt ist der Abschied von Hawkins endgültig. Von Steve, von Eleven, von Will und vielleicht auch von meinem alten Ich, das all die Jahre zugeschaut hat. Stranger Things ist für mich zu einer Zeitkapsel geworden, so wie Harry Potter für viele Millennials. In der Serie stecken mein glitzerndes Abiballkleid, mein erstes WG-Zimmer und viele, viele Freundschaften in Kiel, Den Haag, Hamburg. Seolhwa und ich haben uns für eine Reunion nächsten Sommer in Amsterdam verabredet. Wenn ich die Serie in ein paar Jahren rewatchen werde, wird damit nicht nur Hawkins wieder aufleben, sondern auch all die Versionen von mir in meinen Zwanzigern. Und das ist vielleicht das größte Geschenk, das eine Serie mir machen kann. Auch wenn ich es vermissen werde, das Licht in der ganzen Wohnung auszumachen, mit einer mittelguten Dominos-Pizza auf dem Sofa zu sitzen und Steven mit ein paar Leckerlis auf meinen Schoß zu locken. Hawkins, do you copy?